Der Posteingang ist schon lange nicht mehr leer gewesen, die ToDo-Liste wird immer länger statt kürzer, es gibt einfach kein Aufgabenfeld, das man streichen könnte… Kennen Sie das? Oder andersrum gefragt: wer kennt das nicht?
Zumindest bei Menschen, die einen anspruchsvollen Job mit Führungsverantwortung haben, die womöglich sogar selbstständig sind, ist es ein gängiges Phänomen: zu viele Aufgaben, zu viele Verantwortungsbereiche die um die eigene Aufmerksamkeit ringen, zu viele auch spannende und äußerst interessante Gebiete, mit denen man sich beschäftigen muss und auch will. Am Ende bleibt immer wieder das Gefühl im Raum bzw. im Kopf, zu viel um die Ohren zu haben, sich nicht auf ein paar wenige Dinge konzentrieren zu können, die Motivation leidet: eigentlich ein ständiger Zustand von „Nicht ok“.
Bei Coaching-Klienten, die ich erst neu kennen lerne, mache ich gerne mal am Anfang den Vorschlag, eine Mindmap mit den verschiedenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu erstellen. Was glauben Sie, welche heterogenen Bilder da alle kommen! Schon allein die Visualisierung als Mindmap macht in einigen Fällen ganz klar: das geht nicht. Und zwar beim besten Willen und bei allem Respekt vor der Fähigkeit, zu delegieren und auch Verantwortung abzugeben. Auch bei Leuten, die wirklich spielend regelmäßig ihre 60-Stunden-Wochen abarbeiten, wird oft klar, dass da irgendwas passieren muss, dass eine Konzentration auf weniger Dinge notwendig oder wünschenswert wäre.
In der (lesenswerten) Goethe-Biographie von Rüdiger Safranski bin ich gleich in der Vorbemerkung über eine Eigenschaft von Goethe gestolpert, die der Autor so beschreibt:
„Er machte es ich zum Grundsatz, nur so viel Welt in sich aufzunehmen, wie er auch verarbeiten konnte. Worauf er nicht irgendwie produktiv antworten konnte, das ging ihn nichts an, mit anderen Worten: Er konnte auch wunderbar ignorieren…. Über den physiologischen Stoffwechsel wissen wir inzwischen einigermaßen Bescheid, was aber ein gelungener geistig-seelischer Stoffwechsel mit der Welt ist, das kann man am Beispiel Goethes lernen…“
Wie würde es Johann Wolfgang wohl gehen, wenn er auch ständig fünf Browserfenster offen hätte, wenn laufend emails auf Bearbeitung warten, wenn so viel Wissen dieser Welt nur einen Click entfernt liegen würde (speziell davon wäre er sicher begeistert)?
Motivation und Wandel
Und wenn er einen Job hätte, der die Verantwortung für einige Mitarbeiter und deren Familien umfasst, in einer Branche, die sich rasant wandelt und mit Kunden, die ständig auf der Suche sind nach einem attraktiveren Lieferanten? Einen Job, der immer wieder und immer mehr Motivation verlangt?
Daniel Goleman, der den Begriff der „emotionalen Intelligenz“ durch sein gleichnamiges Buch bekannt gemacht hat, hat sich vor kurzem mit einer neuen Veröffentlichung zum Thema Fokussierung – oder auch den Schwierigkeiten damit – zu Wort gemeldet. Er beschreibt natürlich auch, dass die Konzentration auf jeweils eine einzige Sache deutlich schwieriger geworden ist durch die ständig steigende Komplexität der Welt. Er beklagt auch, dass der Umgang mit dieser Vielheit auch für die Folgegeneration ein wachsendes Problem sei, das sich als mangelnde Konzentrationsfähigkeit und sehr kurze Aufmerksamkeitsspannen bei jungen Menschen bemerkbar mache. Amerikanische Schulkinder bekommen oder verschicken derzeit pro Tag im Durchschnitt deutlich über hundert SMS…
Komplexität
Effektivität, Produktivität und Motivation haben viel mit Fokussierung zu tun. Und damit mit dem Umgang mit Komplexität. Wann ist die „Öffnung“ angebracht, also das Zulassen von Komplexität? Und wann ist es eher Zeit für „Beschränkung“, für die Reduktion von Komplexität also? Im Geschäft sind die Cash Cows ebenso wichtig wie die Innovation, in der Regel kann eines ohne das andere nicht lange existieren. Cash Cows erfordern Konzentration auf’s Wesentliche und auf das was Kunden wirklich wollen. Sie erfordern Begrenzung.
Innovation verlangt das Zulassen von „Vielheit“, von neuen Ideen und Möglichkeiten, von Grenz-Überschreitungen. Die überquellende Mailbox stellt also kein individuelles Thema der Führungskraft dar (manchmal auch das, natürlich…) , sie ist auch ein Organisations- und Kulturfaktor für die ganze Abteilung oder Firma. Und wenn man über Fokussierung nachdenkt, landet man schnell beim Umgang mit der Aufmerksamkeit.
Das ist das, worauf wir letzten Endes einen Einfluss haben: worauf richten wir (wie lange) unsere Aufmerksamkeit? Bei Führungskräften besteht ein wichtiger Teil des Jobs auch darin, die Aufmerksamkeit der ganzen Organisation auszurichten.
Daniel Golemann beschreibt in seinem Buch „Focus – The Hidden Driver of Excellence“ den Umgang mit Aufmerksamkeit als ein Thema mit drei Varianten:
- Die Aufmerksamkeit nach innen: auf die eigenen Gedanken und Gefühle, auf Sorgen und Ängste, Hoffnungen und auch Visionen.
- Die Aufmerksamkeit dem anderen gegenüber (wie sehr ändert sich die Atmosphäre, wenn einer der beiden Gesprächspartner gleich zu Beginn einer Konversation sein Handy auf den Tisch legt) .
- Die Aufmerksamkeit für das „große Ganze“, also ganz nach draußen, auf äußerliche Dinge.
Und er beschreibt, wie wichtig es ist, eine gute Balance zwischen diesen drei Formen von Aufmerksamkeit zu finden:
„All that can be boiled down to a threesome: inner, other, and outer focus. A well-lived life demands we be nimble in each. The good news on attention comes from neuroscience labs and school classrooms, where the findings out to ways we can strengthen this vita muscle of the mind. Attention works much like a muscle – use it poorly and it can wither; work it well and it grows. We’ll see how smart practice can further develop an define the muscle of our attention, even rehab focus-starved brains…“
Man kann also den Muskel der Aufmerksamkeit trainieren, damit auch die Fähigkeit, sich zumindest für den gegenwärtigen Moment auf wirklich ein einziges Thema zu fokussieren, und damit letzten Endes auch die Motivation enorm unterstützen. Bei sich selber, aber auch bei anderen.
Sei es ein inneres Thema, ein Gedanke, der in Ruhe und gründlich gedacht sein will, sei es aber auch ein Gegenüber, der die volle Aufmerksamkeit verdient, oder eine Aufgabe, ein Job, der auch viel besser gelingt, wenn wir mit trainierten Aufmerksamkeits-Muskeln daran arbeiten.
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